Die Dorfbevölkerung im Blick rassistischer Wissenschaft

Wer erkennt sie noch? Die vierte Frau von oben ist wohl Rosa Vögeli, der zweite Mann von oben Mathias Blumer von Engi, der nachmalige Direktor der Sernftalbahn. Die auf den Tafeln 4 und 11 abgebildeten Sernftalerinnen und Sernftaler beweisen wie sämtliche Porträts in Otto Peters Dissertation nur, dass es nichts zu beweisen gibt.
Erneut beschäftigt sich die Geschichtsschreibung zum Kanton Glarus mit der Zeit des Zweiten Weltkriegs.[1] Auch die Sernftaler Gemeinden waren politisch und wirtschaftlich von den Auswirkungen der Kriegsereignisse im Ausland nicht unbeeinflusst. Männer hatten ihren Aktivdienst zu leisten, man war von der Rationierung der Lebensmittel betroffen, nahm Flüchtlingskinder aus Frankreich auf und stellte sich den Anforderungen der sogenannten Anbauschlacht, zum Beispiel mit der Neubewirtschaftung von Kulturland im «Erlen». Über ideologische Einflüsse und Positionen in unserem Dorf ist wenig bekannt. Einerseits lebten hier vereinzelte Sympathisanten des Nationalsozialismus, aus Deutschland oder aus Österreich Zugezogene, andererseits war Deutschlandfeindlichkeit bis weit in die Nachkriegszeit in Engi verbreitet. «Die Deutschen haben ein Scharnier mehr als wir», pflegte einer meiner Onkel, halb bewundernd, halb missbilligend, zu sagen, und alle, die zuhörten, nickten zustimmend. Schriftliche Spuren zu ihrer politischen Haltung haben meines Wissens die Anhänger der verschiedenen Einstellungen nicht hinterlassen.
Aber es liegt aus dem anthropologischen Institut der Universität Zürich eine Dissertation vor, die von nicht ausdrücklich reflektierten rassentheoretischen Voraussetzungen her sich mit den Merkmalen von Körper(teilen) der Sernftaler beschäftigte.[2] «In Engi haben die Frauen, in Matt und Elm die Männer die relativ höhern Nasen.»[3] Oder: «Von den Sernftalern haben die Bürger von Engi die relativ breitesten Stirnen. Von den Frauen des Tales haben diejenigen von Matt die engsten Stirnen.»[4] Vor allem die Ergebnisse der Bartuntersuchungen, die das ganze Tal einbeziehen, lassen aufhorchen. Heute quittieren wir sie wohl mit einem Lachen und der Frage, was Arbeiten mit wissenschaftlichem Anspruch für einen Sinn haben, in denen zum Beispiel festgestellt wird: «An 39 Männern konnte ich die Farbe des Kinn- und Backenbartes feststellen. Unter 40 Jahren sind sich die Sernftaler nicht gewohnt, einen Kinn- oder Backenbart wachsen zu lassen. Talaufwärts nimmt die Häufigkeit der Männer mit Kinn- und Backenbärten zu.»[5] Lassen wir es bei den wenigen Kostproben bewenden. Insgesamt wurden in Engi damals die Körper von 263 Personen im Alter von zwei bis 86 Jahren vermessen, 138 männlichen und 125 weiblichen Geschlechts. Die Doktorarbeit besteht aus einer Fülle von Daten, Tabellen und Statistiken, die aber nicht zur Ermittlung einer Sernftaler oder gar einer dörflichen Rasse führten, sondern Differenzierungen nahelegten, über die der Verfasser der Promotionsarbeit nicht hinwegsehen konnte.[6]
Warum wird hier nun diese antiquierte Dissertation aus der Rumpelkammer des Vergessens hervorgeholt? Es interessiert der geschichtliche Zusammenhang, in dem sie entstand. Die Untersuchung schweizerischer Volksrassen wurde vor, während und auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg mit grossem Ernst und Engagement in der Schweiz betrieben. Federführend war der Doktorvater unseres Verfassers, der Anthropologe, Ethnologe und Rassenhygieniker Otto Schlaginhaufen (1897−1973), lange Zeit Direktor des Anthropologischen Instituts der Universität Zürich. Professor Schlaginhaufen hielt sich zwar in seinen Arbeiten, Vorträgen und Publikationen mit politischen Stellungnahmen zurück. Folgerichtig grenzte er sich auch nicht von der nationalsozialistischen Ideologie ab, da er ja von der Objektivität seiner Körpermessungen überzeugt war und zeitlebens hoffte, klare Rassenmerkmale zu finden. Im Herbst 1945 wollte er Bilanz ziehen und den Anteil ,reinrassiger Personen’ in der Schweiz, aufgeteilt auf sechs Rassentypen, bestimmen. Er kam in diesem fragwürdigen Vorhaben lediglich auf eine Gesamtzahl von 8,66 Prozent ‘echter’ Schweizer.[7] Trotzdem konnte er feststellen, «dass zumindest in der Schweiz die anthropologische Wissenschaft immer wieder Bezug nahm auf seine Forschungsergebnisse.»[8] Schlaginhaufens (akademischer) Einfluss ist noch nicht ausreichend erforscht. Die Doktorarbeit über die anthropologischen Besonderheiten der Sernftaler ist ein Bestandteil der vom Zürcher Professor vertretenen rassistisch grundierten Wissenschaft.
Mit allgemein verständlichen naturkundlichen Themen befassen sich die in meiner Jugendzeit verbreiteten und von mir damals geschätzten, jeweils zahlreiche Farbabbildungen enthaltenden Hallwag-Taschenbücher. Auf dem Rückendeckel eines Bändchens über,Menschenrassen’ preist die Reihe 44 Titel an, die ein grosses Spektrum an Themen von der Astronomie, den Tieren und Pflanzen bis zu Schweizer Gesteinen behandeln. Die erwähnte Publikation liess ich mir von der Grossmutter zum 14. Geburtstag schenken.[9] Mein Interesse erstreckte sich auch auf fremde Völker. Mit keinem Wort wird in diesem Werk der Begriff der Rasse in Frage gestellt, geschweige denn, dass Rassismus und die nationalsozialistische Ideologie abgelehnt würden. Ohne von der Rassentheorie an sich abzurücken, spricht der Autor die Warnung aus: «Rassenunterschiede seelischer und geistiger Art sollten selbstverständlich niemals den Grund zu Hassausbrüchen und Verfolgungen abgeben.»[10] Unverblümt ist hier noch von Negern die Rede, genauso schamlos, wie man im Sonntagsschulunterricht uns weisse Christenkinder mit dem dankbar nickenden ,Negerlein’ auf der Sparbüchse zum Einwerfen einer Münze ermunterte. Fazit: Sogar Dorfgeschichtsschreibung kann und soll zu Selbstkritik anregen.
[1] Jahrbuch des Historischen Vereins des Kantons Glarus 102, 2022.
[2] Otto Peter: Anthropologische Untersuchungen im Sernftal (Kt. Glarus, Schweiz). Wetzikon 1946.
[3] Ebd., S. 198.
[4] Ebd., S. 163.
[5] Ebd., S. 274.
[6] Ebd., z.B. S. 277: «Ueber das Ergrauen der Kinn- und Backenbärte lässt sich auf Grund der geringen Individuenzahl kaum etwas Bestimmtes ableiten. […] Matt und Engi scheinen gerade entgegengesetzte Tendenzen zu haben, es ist dies aber doch kaum anzunehmen. Der Zufall und die Willkür spielt hier zu sehr mit.»
[7] Vgl. dazu das lesenswerte Buch von Christoph Keller: Der Schädelvermesser. Otto Schlaginhaufen – Anthropologe und Rassenhygieniker. Eine biographische Reportage. Zürich 1995, ebd., S. 243.
[8] Ebd., S. 246.
[9] Charles Albert Walter Guggisberg: Die Menschenrassen. Bern [1955]. Eine wohl letzte Auflage erschien 1961 mit einem anderen Titelbild.
[10] Ebd., S. 8.