Die "Wald"-Esche – im Brautkleid, im Trauerkleid, im Märchenkleid
Krank und dank des Neuschnees dennoch eine Schönheit: Die Esche im "Wald", fotografiert vom Autor Albert Schmidt am 11. Januar 2022
In Engi-Hinterdorf gibt es im westlich orientierten Talhang die Liegenschaften Gfell, Wärtligen, Gigerhof, Ringgen und Wald. An jedem Ort stehen nur gerade sieben alte oder umgebaute Bauernhäuser – wahrlich ein Zeichen, dass das Chlital noch nicht völlig überbaut ist! Durch dieses Gebiet läuft die Trittrunse zum Sernf hinunter und da sie beim Gasthaus "Sonne" die Kantonsstrasse unterquert, wird der kleine Bach, der oben auf der Fitterenalp entspringt, hier auch "Sunnärüsli" genannt.
Beim "Wald" steht neben einer alten Bruchsteinmauer eine Esche. Ich erinnnere mich, dass sie in meiner Jugendzeit ein junger, blühender Baum war. Er wuchs von Jahr zu Jahr kräftig, wurde zu einer stattlichen, am Ort solitär stehenden Baumpersönlichkeit und erfreute uns Einwohner mit dem jährlichen Zyklus seines Blätterkleides. Im Vorsommer, wenn ein kalter Frühling endlich vorbei war, stand die Esche mit ihrem neuen Blätterdach im schönsten Brautkleid neben der kleinen Runse da, gross und kräftig. Seit dreissig Jahren werfe ich auch immer einen Blick auf sie, wenn ich mit dem Gleitschirm im Landeanflug auf die Wiese der Blumers bin.
Vor 10 bis 15 Jahren stellten wir fest, dass die Esche einen weniger kräftigen Blätterwuchs hatte und jährlich schwächer wurde. Und bald hörte man von einem europaweiten Eschensterben. Ein Mikropilz sei der schädliche Verursacher.[1] Die heissen und trockenen Sommer der 2000er-Jahre mochten noch das ihre dazu beigetragen haben. In den letzten Jahren setzte der Baum nur noch südseitig wenige Blätter an. Sein Trauerkleid zu sehen stimmte den Betrachter selbst bedrückt und traurig. Nicht nur die "Wald"-Esche wurde in den letzten Jahren zu einer elend wirkenden Baumgestalt. Auch ihre Schwestern im Talwald oberhalb stehen jetzt dürr und fast blattlos zwischen den Ahornen und Buchen, die der Pilz offenbar nicht befallen kann.
Nach der Farbenorgie des Oktobers fallen allen Laubbäumen im Spätherbst die Blätter ab. Und wenn der erste Schnee gefallen ist, wird der ganze Wald der Talflanken vom farblosen Ästegrau in glitzerndes, fein strukturiertes Weiss verwandelt. Nach dem dritten Schneefall im Winter 2021/22 klarte es am Morgen des 11. Januar auf. Um zehn Uhr kommt die Sonne endlich hinter dem Fanenstock hervor und ich schaue einmal mehr durchs Küchenfenster: Da grüsst die kranke Esche ganz verwandelt, strahlend im leuchtend weissen Neuschnee vor dem noch schattenblauen Berghang, geschmückt mit dem schönsten Märchenkleid, als hätte sie ein Wintermärchen gerade erschaffen.
Könnte es sein, dass sie in den kalten Winternächten, wenn Hirsch, Reh und der Fuchs bei ihr vorbeistreifen, träumt? Träumt vom nächsten Frühling, in dem ihr wieder ein hellgrün-frisches Blätterkleid spriesst, ihre Gestalt ausfüllt, so dass sie wieder in jugendlicher Schönheit die warmen Frühsommertage erleben kann? Ob ein Baum träumen kann, können wir nicht wissen. Wir wissen aber von den Baumforschern, dass Bäume Lebenwesen sind, die empfinden und sich erinnern können. Sie erkennen die Gefahren, die ihnen drohen.[2] Ob sich der phantasierte Wintertraum der Wald-Esche einmal erfüllen oder ihr Dasein nun zu Ende gehen wird?
Albert Schmidt
[1] Eschenkrankheit: Um die Jahrhundertwende hat sich von Polen aus der Schlauchpilz Hymenoscyphus fraxineus über ganz Europa verbreitet, so auch in den Schweizer Wäldern, miit zunehmend stärkerem Befall der Eschenbestände. Im österreichischen Bundesforschungszentrum Wald BFW forscht man an neuen, resistenteren Züchtungen und hofft, in 15 bis 20 Jahren eine neue Generation Eschen in den Wald setzen zu können. Wie das in allen europäischen Wäldern geschehen soll, fragt man sich da schon.
[2] Peter Wohlleben: Das geheime Leben der Bäume, München 2015. Der bekannte Baumforscher beschreibt darin, dass Bäume über die ausgedehnten unterirdischen, lebensnotwenigen Pilzgeflechte untereinander kommunizieren. Ob der Baumexperte gar so weit geht, Bäume könnten träumen? Das wäre nachzufragen.