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Die Weltkriegssaate im ‘Erlen’ – ein autobiografischer Erinnerungsort

Die Weltkriegssaate im ‘Erlen’ – ein autobiografischer Erinnerungsort

Die gemähte Landewiese ‘Weltkriegsacker’ im Erlen mit Blick auf einen Teil des Hinterdorfs (Foto: Albert Schmidt)

Im Zweiten Weltkrieg, der auch dem friedlich abgeschiedenen Sernftal schwierige Zeiten brachte, wurde im Bemühen, den Selbstversorgungsgrad der Bevölkerung zu verbessern, den Tagwensbürgern ein Ackerfeld – auf Kosten von Heuwiesen – zur Verfügung gestellt. Auch meine Eltern, Albert und Marie Schmidt-Zwicky, erhielten ennet dem Sernf im ‘Erlen’ so einen Acker oder, wie man ihn umgangssprachlich nennt, eine ‘Saate’ zugesprochen. Ich weiss nicht, ob dieser ‘Pflanzplätz’ noch einige Zeit nach dem Ende des Weltkriegs bewirtschaftet werden konnte, vielleicht 1946 und 1947.

Aber – und damit beginnt meine persönliche Geschichte – mit diesem Platz am Fuss des damaligen Landesplattenbergs verbindet sich eine meiner allerersten Lebenserinnerungen: Ich war ein drei- oder vierjähriger Bub und sehe mich in vagen, unscharfen Bildern mit dem Vater auf diesem Acker die Kartoffeln oder das Gemüse pflegen, bewässern oder ernten. Ich weiss noch, wie ich aus dem kleinen ‘Schwarzkopfrüsli’ das Wasser zum Giessen der Pflanzung holen konnte. Da waren spielen, arbeiten und helfen noch eine vollständig unbeschwerte kindliche Einheit, glücklich verschont von dem Grauen des Krieges rund um die Schweiz. Und so wurde in diesen frühen Jahren auch die Basis gelegt für die starke Identifizierung mit unserem kleinen Bergtal, die mich lückenlos durch mein ganzes Leben begleitet. Nur ist damit noch eine ganz spezielle Besonderheit mit meiner Biografie verbunden, die mir für ein Rentnerleben ziemlich einzigartig erscheint.

Im Sommer 1992 vor dreissig Jahren begann ich damit, mich im damals neu aufgekommenen Gleitschirmfliegen schulen zu lassen, das bei den 1987 enthusiastisch gegründeten ‘Engi-Flyers’ wie eine Bombe eingeschlagen hatte. Das war nun für alle abenteuerlustigen jungen Sernftaler ein bislang unbekannter, total faszinierender Sport – draussen in der Natur, in den Lüften und vor allem mit einem Fluggerät ohne Motor! Und damit ohne Lärmbelastung für die Mitbewohner, die unten auf der Erde in den ersten Jahren verwundert die bunten Segeltücher über dem Tal von den Gipfeln hinunterschweben sahen. Aber was soll das mit der Weltkriegssaate zu tun haben?

Ich habe das Glück, direkt hinter unserm Haus auf der Wiese mit dem Gleitschirm landen zu können. Das war auch für meine 1996 verstorbene Mutter immer ein wunderbares Ereignis, den kleinen Sohn der Weltkriegszeit jetzt aus den Höhen einfliegen zu sehen! Ich sehe sie noch vor mir, wie sie jeweils mit liebevoll-freudigen Augen aus dem Küchenfenster schaute, wenn ich zufrieden den Schirm hinter dem Haus zusammenfaltete. Aber: wenn das Gras zu hoch ist oder wenn die Kühe von Erwin Blumer hier zur einheimischen Milchproduktion beitragen oder wenn sie auf die Alp gezogen sind, aber die Wiese noch voller Kuhfladen ist, dann lande ich hier besser nicht. Also muss ich auf eine andere, gemähte Wiese ausweichen, und dazu ist die grosse, ebene Fläche drüben im ‘Erlen’ ideal geeignet.

Nun brauchte ich 2019 wieder mal einen neuen, den fünften Gleitschirm. Beim ersten Flug mit dem Modell ‘Annapurna’ ab meinem liebsten Startplatz Heueggli landete ich punktgenau auf dem Stück Boden, an dem sich einst unsere Saate befand. Nach einer guten Landung in einem nicht zu starken Talwind wieder auf der Erde zu stehen, das ist ein unglaublich emotionaler Moment! Man kommt wirklich aus einer anderen Welt – das ist keine Übertreibung – und ich stehe jeweils für eine, zwei Minuten reglos da, um ‘wieder anzukommen’. Bei diesem ersten Flug mit dem modern designten Flügel wurde mir schlagartig bewusst, welch einzigartige Erfahrung das Eintreffen auf diesem erinnerungsträchtigen Platz ist! Weil dieser Moment eine weitgespannte Brücke zu meinen ersten Lebensjahren schlägt und das Chlytal allen Veränderungen zum Trotz noch genau so hier zwischen seinen Bergen liegt, wie ich es in meiner Jugendzeit erlebt und verinnerlicht habe. Am Himmel schweben die gleichen weissen Sommerwolken, drüben rauscht der Sernf talwärts wie früher, der Talwind bläst durch die Bäume und Ufersträucher, und nebenan fliesst das kleine Bächli immer noch mit leisem Plätschern durch den Wiesengrund. So wird diese Stunde wie zu einem Flug durch mein ganzes Leben, und es schliesst sich ein Kreis von siebzig erfüllten Lebensjahren zum glückhaften Dasein im Hier und Jetzt.

Albert Schmidt

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