Engi – Eldorado der Kreuzottern
Kreuzotterweibchen, im Mülibachtal aufgenommen (Foto: Thomas Reich)
Am 12. Mai 1945 erschien in den Glarner Nachrichten ein Artikel des Engeler Korrespondenten, eines Lehrers, über die Kreuzotter.[1] Er beginnt mit einer dramatischen Erzählung: Auf der Suche nach Weisstannenästen («Chries») im Gufelstockgebiet sah der Berichterstatter, der von Primarschülern begleitet war, «ein dunkles, strickartiges Etwas, das sich unter heftigem Zischen bergaufwärts bewegte». Die Knaben zeigten, was den Lehrer erstaunte, «keine Zeichen von Furcht», baten ihn aber, das Tier zu töten. Er erfüllte den «echt knabenhaften Wunsch gerne und betäubte die neu aufgestöberte Otter durch einen sanften Stockschlag auf das Hinterende des keilförmigen Kopfes. Ein zweiter, stärkerer Schlag erledigte den sich unter wütendem Zischen heftig windenden Giftwurm gänzlich. Erst jetzt waren wir in der Lage, ihn so richtig zu betrachten.» Die Berggänger nahmen die getötete Schlange nach Hause und stellten die «Jagdtrophäe im alten Glaskasten der Schule aus». Auf den einleitenden Erlebnisbericht folgt im Zeitungsartikel Lehrbuchwissen. Der Naturforscher Oswald Heer hatte rund 100 Jahre zuvor auf der Berglialp im Schrecken eine Schlange getötet, die er mit einer seltenen Pflanze verwechselt hatte. Seine Kurzerzählung fand in einem Glarner Lehrbuch weite Verbreitung und konnte zu Nachahmungstaten anregen.[2]
Lokale Korrespondenten vermittelten über viele Jahre hinweg in den Glarner Nachrichten immer wieder naturkundliche Kenntnisse an die breite Bevölkerung. Diese Aufgabe übernahm in neuerer Zeit in erster Linie das 2007 gegründete Naturzentrum Glarnerland.[3] Seit Langem stehen aus berechtigten Gründen in unserer Gegend lebende Reptilien unter strengem Schutz. Das Töten einer Schlange ist heutzutage, anders als früher, eine strafbare Handlung.
Im Laufe der Jahrzehnte begegnete ich selbst, auch oberhalb der Waldgrenze, immer wieder Kreuzottern. Auf der Alp Gams im Mülibachtal entdeckte ich auf der Bergstrasse erstmals eine Kupferotter, die ich beim ersten Anblick mit einer Blindschleiche verwechselte. Im Aufstieg zum Oberstafel der Alp Laueli sah ich mehrmals die schwarze, Höllenotter genannte, Varietät der Kreuzotter und auf dem Weg vom Heueggli zum Oberstafel der Fitternalp vor wenigen Jahren ein Exemplar, das dem im obigen Zeitungsartikel erwähnten sowie dem hier abgebildeten glich. Ob im Einzugsgebiet von Engi heute noch alle drei Farbvarianten der Kreuzotter (Vipera berus) verbreitet sind, entzieht sich meiner Kenntnis. Im Gegensatz zum Korrespondenten von 1945, der von keinem Schlangenbiss im Sernftal wusste, ist mir bekannt, dass im Mülibachtal vor Jahrzehnten einmal ein Jäger und später ein Wildheuer von einer Kreuzotter gebissen wurden. Zweifellos könnte die Reihe der geschilderten Begegnungen mit ,Atere’, wie im hiesigen Dialekt die Kreuzottern genannt werden,[4] um Beobachtungen anderer Personen verlängert werden. Der Aterestei in Engi, heute ein Kletterfelsen (860 m ü. M.), ist selbstverständlich im Flurnamenbuch erwähnt.[5]
Den Reptilienvorkommen in der Schweiz im Allgemeinen sowie insbesondere im Glarnerland widmete das Glarner Naturzentrum kürzlich eine Ausstellung, die, ganz auf das Schutzinteresse und das Verständnis für dieses ausgerichtet, vornehmlich einen naturpädagogischen Zweck verfolgt.[6] Daher erhält man über die Koordinaten der Sichtungen von Kreuzottern keine Auskunft, da «es sich um eine sensible Art» handle. Aber es wird grundsätzlich festgehalten, dass «auf dem Gebiet der ehemaligen Gemeinde Engi oberhalb von ca. 1000 m in geeigneten Habitaten überall mit Kreuzottern gerechnet werden darf/kann/muss – bis weit oberhalb von 2000 m. Unterhalb von ca. 1000 m sind Kreuzottern im Sernftal sehr selten, aber Beobachtungen nicht ausgeschlossen.»[7]
Wir schliessen mit einigen naturgeschichtlichen Informationen. Ohne dass Beobachtungsorte genannt wurden, fanden bereits in dem 1670 erschienenen Werk zur Glarner Fauna des Schwander Pfarrers Heinrich Pfändler (auch Pfendler) (†1687) die Kreuzottern kurz Erwähnung. Er weist auf die tödliche Gefahr von Schlangenbissen – er nennt die Kreuzottern ,Nattern’− für das Vieh hin.[8] Wie nicht anders zu erwarten, ist für unsere Gegend Oswald Heer auch zum Vorkommen der Kreuzotter der wichtigste naturhistorische Gewährsmann: «Die gemeine Viper ist übrigens gar viel häufiger als die schwarze. Von letzterer weiß ich mit Bestimmtheit nur, daß sie im Wiedersteinerloch […], dem obern Stafel von Mühlebach und auf Uebelis, gegen das Werben zu, vorkömmt; Erstere dagegen fand ich in vielen Alpen bis zu 7600 F.[uss] üb. M. hinauf; in letzterer Höhe sah ich sie z.B. auf dem Heustock [2470 m] in Mühlebach.»[9] Das Mülibachtal erschien später in einem Standardwerk zur Schweizer Fauna, im unerwähnten Rückgriff auf Heer, als wichtiger Ort des Vorkommens von Kreuzottern: Auch der Heustock wird dort, als höchstgelegenes Habitat überhaupt, prominent wieder genannt.[10]
[1] Glarner Nachrichten, Nr. 109, 12. Mai 1945.
[2] Otto Herold: Bilder aus der Geographie und Geschichte des Kantons Glarus. Lesestücke für die Mittel- und Oberklassen der glarnerischen Primarschule. Sechste Auflage. Glarus 1926, S. 237f.
[3] https://naturzentrumglarnerland.ch/.
[4] Die Kreuzotter ist auch in eine Glarner Sage eingegangen, vgl. Glarner Sagen, gesammelt und herausgegeben von Kaspar Freuler und Hans Thürer, Zeichnungen von Kurt Mühlbauer. Glarus 21979, S. 175f., D Bärgli-Aatere. Dieselbe Sage findet sich unter dem hochdeutschen Titel «Die Bergli=Nattern» in einer anderen Mundartversion bei Herold (wie Anm. 2), S. 138f. Neuestens erschien die Sage in ebenfalls voneinander abweichenden Mundartversionen in: Thomas Reich, Jürgen Kühnis: Amphibien und Reptilien im Kanton Glarus. Glarus 2021, S. 98, und in: Glarner Heimatbuch. Lehrmittel für den Unterricht an der Volksschule des Kantons Glarus. Glarus 2021, S. 289.
[5] Die Flurnamen von Engi GL (Ortsgeschichtsverein Engi, CH-8765 Engi). o.O. 2010, S. 23f., Aterestei (mit Abbildung, S. 24).
[6] Die Ausstellung wurde angeregt von der Publikation von Reich/Kühnis (Anm. 4). Vgl. hier S. 96, Abb. 109, das Foto einer Höllenotter auf der Chräuelalp.
[7] Freundliche Mitteilung von Thomas Reich, Regionalvertreter karch, Kanton Glarus, vom 10. November 2022.
[8] Heinrich Pfändler: Gründliche Beschreibung der hohen Bergen / sambt deren sich darauff befindender Fruchtbarkeit / wilden Thieren / deren Natur / und anderen Wunder=dingen / Des lobl. Orts und Lands Glarus […]. Glarus 1670, S. 45f.
[9] Oswald Heer, Johann Jakob Blumer-Heer: Der Kanton Glarus, historisch-geographisch-statistisch geschildert von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart. Ein Hand- und Hausbuch für Jedermann. St. Gallen und Bern 1846, S. 180.
[10] Charles Albert Walter Guggisberg: Das Tierleben der Alpen. Vollständige Neubearbeitung des «Tierlebens der Alpenwelt» von Friedrich von Tschudi. Bd. 1. Bern 1954, S. 388f., Erwähnung des Heustocks, S. 388.