Name ist nicht Schall und Rauch − von Josef De Martin zu Josef Mattli
Urkunde, die beweist und bestätigt, dass Josef De Martin, seine Frau, die ledig eine Elmer Bürgerin gewesen war, sowie seine Kinder am 1. Mai 1941 ins Glarner Kantonsbürgerrecht aufgenommen wurden. Dem Schreiber gelang es allerdings nicht, den Namen De Martin korrekt mit grossem 'D' beginnen zu lassen bzw. es fällt schwer, das betreffende 'D' als grosses zu lesen.
Der Historiker interpretiert in der Regel emotionslos überliefertes Schriftgut und/oder befragt Zeitzeugen, verfasst dann einen Text zum ausgewählten Thema und weist in Fussnoten nach, wem er die herangezogenen Informationen verdankt. Mir liegen zwei Schreiben eines Gesuchstellers sowie eine Anzahl Verwaltungsakten vor, die den langen Weg bis zum Erwerb des Schweizer Bürgerrechts nachvollziehen lassen.[1] Nimmt ein Individuum im schriftlichen Verkehr mit offiziellen Stellen Gestalt an? Kommen wir den Personen wirklich näher? Eher lernen wir hier zeitgenössische Rollenträger im Umgang mit einem Bittsteller sowie administrative Verfahren kennen. Max Frisch spricht in seinem Tagebuch unter dem Monatsdatum März 1946 von der Sehnsucht nach Welt, von unserem «Heimweh nach der Ferne»,[2] das aber über die tatsächliche Befindlichkeit, das Fremdsein in nächster Nähe, hinwegtäusche. Wenden wir uns einem Gegenbeispiel aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und der in ihm zum Ausdruck kommenden Sehnsucht nach dörflicher Integration zu.
Am 28. August 1901 wurde Josef De Martin als Sohn des italienischen Gastarbeiters Luigi De Martin Flecco und der Maria geb. Mattli auf dem Urnerboden, Gemeinde Spiringen, geboren. Josef wuchs bei der Grossmutter am Geburtsort auf, wurde Verdingkind, Ziegen- und Rinderhirte. Über die ersten beiden Jahrzehnte seines Lebens ist wenig bekannt. Von 1927 liegen, wahrscheinlich im Zusammenhang mit einem ersten Einbürgerungsgesuch, eine Arbeitsbescheinigung und ein Leumundszeugnis vor, das von «Herrn Josef Demartin genannt Josef Mattli» spricht. Es folgt eine Überlieferungspause.
Nach dem Empfang eines vorgedruckten Schreibens des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements vom 22. Juni 1932 begann die kräftezehrende Suche nach einem Gemeinde- und Kantonsbürgerrecht. Am 27. August 1932 bewarb sich Josef De Martin in der urnerischen Gemeinde Seedorf, in der seine verheiratete Schwester lebte. Am 4. Dezember jenes Jahres lehnte der Gemeinderat von Seedorf den Antrag mit der Begründung ab, dass die angebotenen 600 Franken Gebühr leider zu niedrig seien – andererseits war das ein sehr hoher Betrag für einen damaligen Kleinverdiener. Anscheinend nahm man anstelle Josefs lieber einen zahlungskräftigeren italienischen Steinbruch-Aktionär in Seedorf als Gemeindebürger auf.
Die buchstäbliche Rede, dass man sich ,einkaufen’ musste, bestätigte sich auch im Fortgang dieser Einbürgerungsgeschichte. 1935 erwarb De Martin die kleine Liegenschaft ,Wald’ in Engi-Hinterdorf. Im Jahr darauf heiratete er Anna Elmer. Er hatte auf dem Bauernbetrieb ihrer Eltern in der hintersten Talgemeinde als Knecht gearbeitet. 1937 wurde das erste Kind geboren. Landkauf, Ehe und Gründung einer Familie schienen gute Referenzen für den Erwerb des Engeler Bürgerrechts zu sein, um das sich «Josef De Martin-Elmer, genannt Mattli» 1938 in einem nicht genauer datierten Brief bewarb. Sein Anliegen begründete er unter anderem damit, dass er «auch Holz und Streue benötige, welches manchmal schwer ist zu beschaffen, wenn man nicht Bürger ist». «Ich habe mich», beteuerte er, «immer als Schweizer gefühlt, es wäre für mich überaus hart, wenn ich je ins Ausland gehen müsste,[3] da meine Heimat in der Schweiz ist.» Am 14. Oktober 1940 teilte ihm der Gemeinderat Engi mit, dass die Bürgergemeindeversammlung vom Vortag der Aufnahme der Familie ins Tagwensbürgerrecht zugestimmt habe. Die Einkaufssumme von 2000 Franken war für damals und erst recht für den Gesuchsteller enorm hoch. Die Einbürgerung geschah unter der Voraussetzung, dass sowohl das Kantons- als auch das Schweizerbürgerrecht erworben werde. Der Glarner Landrat nahm dann «de Martin Josef» in seiner Sitzung vom 26. April 1941 ins kantonale Bürgerrecht auf – das übliche gesetzmässige Vorgehen.
Die nächste Hürde war der Wunsch, den für hiesige Gegenden fremden Namen «De Martin» ablegen zu dürfen. Aus einem Protokollauszug des Regierungsrats vom 30. Dezember 1942 geht die Genehmigung dieses Gesuchs hervor. Es folgte noch die Veröffentlichung des Beschlusses im Amtsblatt gegen eine Gebühr von 20 Franken. Damit war für Josef Mattli das während 15 Jahren angestrebte Ziel, Schweizer zu werden, erreicht-
Die Lektüre über bürokratische Abläufe mag langweilig sein. Für den Betroffenen waren sie jedenfalls langwierig. Aus historischer Sicht liegt die Pointe in dem vorliegenden Fall aber auf den Erwägungen des kantonalen Zivilstandsinspektorats, die dem regierungsrätlichen Dokument in einer Typoskriptkopie beigelegt waren. Aus ihnen geht hervor, dass bereits 1941 ein ähnliches Gesuch gestellt und abgelehnt worden sei, weil auf die «Rechte des alt eingesessenen Kleintalernamens Marti» Rücksicht zu nehmen sei: «Man wollte vermeiden, dass schutzwürdige Interessen einer Familie in der Weise verletzt werden, dass ihr Muttername jemandem zugesprochen wird, der ihr nach Abstammung nicht angehört.» Auch das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement teile diesen Standpunkt. Es wird im kantonalen Gutachten aber auf den Wunsch des Gesuchstellers verwiesen, «hauptsächlich für seine drei kleinen Kinder einen gut bürgerlichen, schweizerischen Namen zu tragen und den hochtrabenden Namen De Martin abzulegen, um so auch äusserlich zu bekunden, dass er einer der unseren sein wolle». Anscheinend war auf Gemeindeebene der italienische Name des Gesuchstellers auf Ablehnung gestossen. Der urnerische Geschlechtsname ,Mattli’, der Ledigname von Josefs Mutter, zeigte in den Sernftaler Gemeinden ohnehin an, dass der Petent kein Einheimischer, sondern ein ’Auswärtiger’, war und bleiben sollte. Als schlechter Witz liest sich heute im inspektoralen Gutachten die Begründung, «dass der Gesuchsteller von Beruf Landwirt ist und dass ein ausländischer Name mit dem Adelsprädikat in seinen Kreisen weit mehr Anstoss erregt als z.B. bei einem Kaufmann». Am Schluss der etwas ausufernden Erörterungen – vielleicht wusste der damalige Verfasser allzu genau, welchen Ton er anschlagen musste, um das Anliegen durchzubringen – beantragte die kantonale Amtsstelle dem Regierungsrat, «die gesuchte Namensänderung in diesem speziell gearteten Fall zu bewilligen.» Wie vorweggenommen, geschah dies denn auch. Josef Mattli wurde «einer der unseren». Von 1941 bis 1945 erfüllte er unbewaffnet Aktivdienstpflichten, in den Nachkriegsjahren (bis 1949) bezahlte er die Militärpflicht-Ersatzsteuer. Ende gut, alles gut? Schweizermacher von damals und von heute – ein nicht nur historisch unerschöpfliches Thema.
[1] Margrit Mattli, der Tochter Josef Mattlis, danke ich für die Zustimmung, die mir anvertrauten Dokumente für diese Dorfmiszelle auswerten zu dürfen. In den amtlichen Unterlagen wird der ursprüngliche Name De Martin auch, fälschlicherweise, Demartin geschrieben.
[2] Max Frisch: Tagebuch 1946−1949. Frankfurt am Main 1985, S. 22.
[3] 1937 erfolgte der Austritt Italiens aus dem Völkerbund, 1938 erliess Italien rassistische Gesetze.