Spazierendes Engeler Sagenfräulein: «Ds Pulsterewiibli»
Die markante Bergföhre auf dem Fittereggli, dem Ausgangspunkt der Wanderung des Pulsterewiiblis
«Es kommt vom Fittereggli her und nimmt seinen Weg über den obern Teil der Speichenruns, bei dem Sitli vorbei an die Pulstern, der linken Seite von dem Eingang ins Mühlebachtal. Dort sahen es Leute am Tage Werch[1] spinnen, während es jenen Gang immer um Mitternacht machte. Es wurde indes nur von Fronfastenkindern bemerkt. Nachher wurde ihm durch neue Häuser, die in seinen Weg gestellt wurden, sein allnächtlicher Gang verbaut, und daher fanden dann die Bewohner der betreffenden Häuser morgens oft Haustüre wie Küchen- und Hintertüre offen. Natürlich hatte durch sie das Pulsterewibli seinen Weg genommen.»[2]
Die meisten Glarner Dörfer haben ihre Sagen, so auch Engi. Der Spaziergang des Pulsterewiiblis, die Wiederholungsaktion der gespenstischen Gestalt, wird geographisch durch die Aufzählung von Fluren, die am Weg der auch als ‘Ruuswiibli’ bezeichneten Frau liegen, in der Landschaft genau lokalisiert (vom Fittereggli bis zum Eingang des Mühlebachtals).[3] Unbeirrt durch Veränderungen in der Zeit, so die wachsende Besiedlungsdichte, geht das Gespenst seinen vorbestimmten Weg. Nur Menschen mit besonderer Intuition, Fronfastenkinder, wird hervorgehoben, bemerken es. Es handelt sich bei ihnen um Personen, die laut der Überlieferung eine Beziehung zur übersinnlichen Welt besitzen. [4] Der Kommentarsatz am Schluss weist die Sage als Schilderung des wiederkehrenden Ablaufs eines ungewöhnlichen, mysteriösen Ereignisses aus. Die andere Welt ist hier in den Alltag eingebunden, als ob sie, wie eine Haus- oder eine Küchentüre, zu ihm gehören würde. Die Sage transportiert mit dem Hinweis auf die Hellsehergaben von Fronfastenkindern weiteres, dem Aberglauben zugerechnetes Wissen. In den 50er- und 60er-Jahren wohnte in Engi eine Person, der man nachsagte, sie sei ein Fronfastenkind. Sie lebte bezeichnenderweise in der näheren Umgebung der Speichenrunse, einer der ‘Stationen’ am Weg des ‘Pulsterewiiblis’.
[1] Flachs, Hanf.
[2] Glarner Sagen, gesammelt und herausgegeben von Kaspar Freuler und Hans Thürer. Zeichnungen von Kurt Mühlbauer. Glarus 1979, S. 189. Siehe auch Martin Baumgartner-Marti: "Wenn an Fronfasten der Föhn weht, dann regiert er das ganze Vierteljahr ...". Relikt eines alten Volksglaubens. In: Neujahrsbote für das Glarner Hinterland 25, 1991, S. 319−336, hier S. 323, mit der Foto vom Festzug zu 'Glarus 600 Jahre im Bund' von 1952, wo das Pulsterewiibli, das Speicheruuswiibli und der Mattsytebogg einen 'Auftritt' hatten.
[3] Die Bezeichnung ‘Ruuswiibli’ wurde auch in das Schweizerische Idiotikon (Online, Bd. 15, Sp. 159) aufgenommen und mit dem Beleg aus Engi und mit folgendem Kommentar nachgewiesen: «Schreckgestalt für die Kinder am Abend». Der Einsender der Mitteilung war Heinrich Marti, Primarlehrer in Engi, der dem Lexikon auch mitteilte, dass sich das Ruuswiibli tagsüber in Runsen und Gebüschen verborgen halte.
[4] Personen, die am Abend des Fronfastenmittwochs (Mittwoch nach dem Aschermittwoch) geboren wurden, sagte und sagt man nach, sie stünden mit der überirdischen Welt in Beziehung, sähen zum Beispiel Gespenster und könnten Todesfälle Wochen vor dem Ereignis vorhersagen (Schweizerisches Idiotikon, Bd. 3, Sp. 344).