Konfliktfelder der Ziegenhaltung

Kleine Ziegenherde mit Bock (Mitte) und Jungtieren beim Stall zwischen Badchopfrunse und Mattlaui, aufgenommen am 17. Oktober 2024.
In den geografischen Lexika der Schweiz ist stets von der Viehzucht als wichtigem Erwerbszweig in der Gemeinde Engi, nie aber von der wirtschaftlichen Bedeutung der Ziege die Rede.[1] Ältere Dorfbewohner erinnern sich an die Ziegenställe im Kugelries, an die vom ‚Geisser‘ in die Weidegebiete geführten Ziegenherden und an die korporative Organisation der dörflichen Ziegenhaltung. Aber wie weit reichen historische Kenntnisse zurück? Wo sind sie überliefert? Immer wieder gaben die Geissen Anlass zu Interessenkonflikten: Die Ziege − ein umstrittenes Nutztier, das einerseits Schäden in den Wäldern anrichtete, andererseits aber als Milch- und Fleischlieferantin für die Versorgung und das Überleben auch weniger begüterter Dorfbewohner begehrt, ja unentbehrlich war.
1789 sammelte Ratsherr Mathäus Marti (1742−1830) in dem von ihm angelegten Geissbuch seine Abschriften alter Dokumente über die frühneuzeitlichen Geissweidrechte.[2] Alles Wichtige sollte, auch für die Nachwelt, zwischen zwei Buchdeckeln beieinanderstehen, dem Gedächtnis aufhelfen und der Information, vor allem in Konfliktfällen, dienen. Wir werfen einen kurzen Blick in dieses wichtige Quellenzeugnis und ergänzen ausgewählte Vorschriften mit weiteren Befunden. Unsere Beobachtungen mögen die Lust wecken, das Thema in der ganzen Breite auszuloten.
Die Niederschrift der Geissweidrechte seit dem beginnenden 17. Jahrhundert trug in erster Linie zur Vorbeugung von Streitigkeiten sowie zur Regelung und Schlichtung von Nutzungskonflikten bei, die meistens zwischen den privaten Alpbesitzern und dem Tagwen Engi auftraten. Den Tagwensbürgern stand nämlich das Gewohnheitsrecht zu, in bestimmten, jedoch möglichst klar abgegrenzten Gebieten zu festgelegten Zeiten Ziegen weiden zu lassen. Bereits vom 17. Juli 1612 datieren einschlägige Anweisungen für das Mühlebachtal. Wenn mehr als 300 Ziegen zu hüten seien, heisst es, sollten vorsorglich zwei Hirten, ,Geisser‘ genannt, eingesetzt werden. Im Weiteren wurde festgehalten, dass das Gebiet ‚Werben‘ der Kuhweide und der Alpwirtschaft vorbehalten sei und daher Ziegen dort nichts zu suchen hätten. Auf Fittern dürfe man sie, wie die Abmachung vom 21. Mai 1660 vorsah, unter anderem „bis ob die hüten zu den feigen bäumen […] nicht lasen weiden“ – hier wohl der älteste schriftliche Beleg für den Flurnamen „Figebaumbödeli“.[3] Mit den Besitzern der Alp Fittern wolle man in Frieden leben, dies wohl insbesondere deshalb, weil es sich um Einheimische handelte. Auf denselben Tag gehen die Geissweidrechte im Gufelstockbereich („Artzet Gufel“) zurück, dessen Alp damals dem Ennendaner Fridolin Becker gehörte. Bereits am 28. Oktober 1659 hatte man Atzungvorschriften für die Käsgadenalp und das weit gefasste Gebiet des Laueli erlassen.
Von 1671 liegt ein Beschluss der Tagwensbürger vor, der die Geissweidrechte im ganzen Einzugsgebiet von Engi regelte. Diese Ordnung wurde 1692, 1701 und 1821 bestätigt, der Weidgang u.a. wie folgt geregelt: Es „sollend keine [Ziegen] dahin getriben werden ohne einen hirten, der sie gaumen vor den überigen küweiden.“[4] Die Analyse des Engeler Tagwensbuchs legte den Schluss nahe, dass im 17. Jahrhundert in Engi der Besitz von Ziegen auf Kosten der Schafhaltung einen grossen Aufschwung genommen habe.[5] 1723 bildete ein Streit um Geissweidrechte in der Gegend des Wartstaldens sogar den Gegenstand eines Gerichtsurteils, das dem Kläger ein Drittel, dem Tagwen zwei Drittel der Kosten auferlegte. Hingegen konnte am 16. Juni 1756 ein Konflikt zwischen Ratsherr Christoph Baumgartner (1700−1784) und dem Tagwen Engi wegen Geissweidrechten in der Nähe des Badkopfs gütlich beigelegt werden. Um solche stritten bisweilen auch die Tagwen miteinander (1835 Engi mit Sool, 1680 und 1860 Engi mit Schwanden). Am 27. Juli 1783 musste die Glarner Obrigkeit ein Urteil über den Zwist der Besitzer der Lauelialp mit Engi fällen, dass nämlich der Tagwen „mit seiner Geißhirthe in gedachter Alp Laueli künftighin auf kein weis noch weeg weiter oder anderster fahren solle, als einzig und allein denen Ohrten und Weegen nach, welche in dem Tagwensbuch zu Engi enthalten sind […]“.[6]
Umstrittene Geissweidrechte waren noch im 20. Jahrhundert Ursache von Auseinandersetzungen. In einem Schreiben vom 15. November 1945 hiess der Regierungsrat eine Beschwerde der Ziegenkorporation Engi gut, die sich von der Gemeindebehörde keine Busse aufbrummen lassen wollte, weil sie von Alpbesitzern wegen widerrechtlich zugelassener Atzung angeklagt wurde. Die kantonale Obrigkeit beanstandete in ihrer Antwort auf den Rekurs der Korporation, dass dem Gemeinderat die gesetzliche Befugnis fehle, in der hängigen Sache Bussen auszusprechen. Um die Voraussetzung für eine Bestrafung von Verstössen zu schaffen, erliessen die Bürgergemeindeversammlungen vom 18. Mai, 21. Juni und 4. Oktober 1947 eine ‚Gemeindegesetz‘ genannte Verordnung über die „Fahr- und Weidrechte der beiden Ziegenherden […] in den Tal- und Alpgebieten der Gemeinde Engi“. Sie enthielt einen Paragraphen über das Recht des Gemeinderats, „zur Anzeige gebrachte Uebertretungen durch angemessene Bussen zu ahnden“[7]. Mit dem Rückgang der Ziegenbestände in der Gemeinde und der Aufhebung der grossen Ziegenherden hatten später auch die jahrhundertelangen Querelen um Geissweidrechte ein Ende.
[1] Wohl aber bei Stebler, siehe unseren Beitrag ‚Dörfliche Ziegengeschichte‘.
[2] Auch dieser Beitrag wurde durch die Dokumente zur Ziegenwirtschaft ermöglicht, die im Besitz von Fritz Hämmerli-Kamm sind. Das ‚Geissbuch‘ gehört zu diesen Quellen.
[3] Die Flurnamen von Engi. Hrsg. vom Ortsgeschichtsverein Engi. (Engi) 2010, S. 94, Figebaumbödeli, Figebaumwäldli, hier auch zur Herkunft dieser Bezeichnungen.
[4] Alle diesbezüglichen Angaben in: Die Rechtsquellen des Kantons Glarus. 4. Band. Gemeinden und private Genossenschaften, bearbeitet von Fritz Stucki. Aarau 1985, hier S. 1891, E: Weideplätze der Geissen vor dem Auszug. Stucki (ebd.) konsultierte auch das Engeler Geissbuch.
[5] Christoph H. Brunner: „Von Schaffen in der Geissweidt“, Abschnitt in: „Die kleine Weite“. Engi im Sernftal 1500−1800. Muntere Dokumentationen (Typoskript). o.O. o.J.
[6] Sammlung Hämmerli (wie Anm. 2), Einzeldokument, unterzeichnet von Landschreiber Johann Melchior Kubli.
[7] Ebd., Gemeinde=Gesetz, S. 5, Schluss- und Strafbestimmungen.