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Das Chlöschterli in der Mattsite – Dichtung und Wirklichkeit

Das Chlöschterli in der Mattsite – Dichtung und Wirklichkeit

Das Cholbödeli heute, aufgenommen am 2. Februar 2023. Dass hier einst ein Klostergebäude gestanden haben soll, ist kaum vorstellbar, schon eher, dass die Klosterrunse, die, wie man sieht, heute etwas eingedämmt ist, den Platz an der Sernftalstrasse immer wieder verschüttete. Die düstere Winterstimmung passt aber zur Sage.

Sagen werden schriftlich und/oder mündlich überliefert, der Stoff bleibt derselbe, die Erzählung kann immer wieder mit anderen Akzenten versehen werden. In der Regel genügt sie sich selber. Wie sie entstand, interessiert gewöhnlich nicht. Ja, die Entstehungsumstände sollen sogar im Dunkeln bleiben, damit die Sage in eine uralte Zeit zurückdatiert und ihre Herkunft aus dem Volk nicht geleugnet werden kann.

An der Grenze zwischen den Dörfern Engi und Matt, im Mattbrunnen oder im Mattsiten, dort, wo die Chloschterruus (Klosterrunse) das Tal erreicht, wird die Sage vom Chlöschterli angesiedelt.[1] In diesem sollen in ferner Zeit Nonnen gehaust und ein sittenloses Leben geführt haben. Eine arme, alte Frau, die sie an einem Weihnachtstag um Unterstützung bat, wiesen sie schnöde ab, in die kalte Winternacht hinaus. Im hohen Schnee erfror sie. Nachdem ihre Leiche im Frühling aufgefunden worden war, wurde die Tote schicklich begraben, das Kloster aber durch einen grossen Murgang zerstört. Von ihm blieb, so will es die Sage, keine Spur mehr übrig, ausser dass die Klosterfrauen in der Heiligen Nacht gezwungen seien, bis zum Ende der Geisterstunde einen wilden Tanz aufzuführen.

Der schweizerische Jugendfreund veröffentlichte 1837 die Klostersage in dichterischer Form (Achtzeiler, Wechsel von vier- und dreihebigen Jamben sowie weiblichen und männlichen Kreuzreimen).[2] Martin Baumgartner liess diese Version 1997 abdrucken und übersetzte in freier Paraphrase das im Jugendfreund erschienene Gedicht in Mundartprosa.[3] Unbeachtet blieb die Initiale ‘H.’, der Hinweis auf den Verfasser der Reimerzählung. Es liegt nahe, in diesem den Matter Pfarrer Jakob Heer (1784−1864) oder seinen Sohn Oswald (1809−1883), den Naturforscher, zu vermuten. Bereits der Schwander Pfarrer Johann Heinrich Tschudi (1728−1783) wies in seiner Glarner Chronik auf das ehemalige Bestehen eines Klösterleins zwischen Matt und Engi hin.[4] Für dessen Existenz fehlt aber jeder historische Beleg. Das Chlöschterli ist wohl ein Produkt der Erfindung. Welches aber ist, neben der genauen Bezeichnung des Orts der Handlung, die realhistorische Aussage dieser Fiktion? Deren Interpretation führt uns auf die seit der Reformationszeit verbreitete Glaubenspolemik, die sich auch und vor allem gegen die Klöster und das monastische Leben richtete. Die Engeler Sage fand 1842, ebenfalls in Gedichtform, unter dem Titel Das Klösterlein zu Enge Eingang in eine vom Aarauer Gewerbelehrer Rudolf Müller (1809−1864) publizierte Sammlung Schweizer Sagen.[5] Das Gedicht weist die Untertitel 1. Die lustigen Nonnen, 2. Der Pilgerin Fluch und 3. Die Erfüllung auf. Von kleinen Abweichungen im mittleren Abschnitt abgesehen wird das Metrum der früheren Ausgabe beibehalten, der Inhalt der Lasterkritik aber insbesondere durch eine Hinzufügung auf eine zuvor nicht gekannte polemische Spitze getrieben: «Und sangen [die Nonnen] die Metten und Vespern / Gar lustig zum vollen Pokal; / Den Beichtiger riefen sie züchtig / In’s trauliche Kämmerlein: Und was sie da absolviret, / Mag wohl zu errathen sein.»[6] Herausgeber Müller stellt in der Einleitung der Sagensammlung klar, dass keines «der geistlichen Bilder in dieser Sammlung, auch nur die entfernteste Beziehung auf unsere aargauer Klosterfrage hat, ja haben kann, indem diese erst ein volles Jahr nach Abschluß meiner Arbeit eingetreten».[7] Bekanntlich wurden 1841 im Kanton Aargau, also ein Jahr vor dem Erscheinen von Müllers Publikation, die Klöster aufgehoben. Müllers zitierte Beteuerung ist noch auf weitere Klostersagen seiner Sammlung zu beziehen. Auch wenn die von ihm erwähnte chronologische Abfolge zutreffen mag, deckte sich das Erscheinungsjahr seiner Schweizersagen mit der konfessionell sehr konfliktreichen Zeit vor dem Ausbruch des Sonderbundskriegs. Die Engeler Klostersage geriet damit in einen überlokalen historisch-geographischen Kontext. Dieser blieb der späteren Überlieferung der Chlöschterli-Sage bislang verborgen. Es ist Zeit, sich vor oder nach dem Erzählen der Sagen auch an historische Zusammenhänge zu erinnern, die in ihnen zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber für ihre Entstehung und Verbreitung relevant sind.


[1] In hochdeutscher Sprache enthalten in: Glarner Sagen, gesammelt und herausgegeben von Kaspar Freuler und Hans Thürer. Zeichnungen von Kurt Mühlbauer. Glarus 1979, S. 174f: Das Klösterlein zu Engi.

[2] Der schweizerische Jugendfreund. Eine Monatsschrift. Glarus 1837, Erster Jahrgang Viertes Heft, Oktober, S. 123−126. In Klammern steht nach dem Titel auf einer neuen Zeile die Bezeichnung der literarischen Gattung: «Eine Volkssage», hier S. 123.

[3] Martin Baumgartner-Marti: Ds Chlöschterli i Engi. In: Neujahrsbote für das Glarner Hinterland (Grosstal und Sernftal) 32, 1998, S. 43−45.

[4] Johann Heinrich Tschudi: Beschreibung des Lobl. Orths und Lands Glarus. Zürich 1714, S. 32.

[5] Rudolf Müller: Bilder und Sagen aus der Schweiz in episch=lyrischem Gewande. Glarus 1842.

[6] Ebd., S. 99.

[7] Ebd., S. V.

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