Die Engeler Schulmisere (1835) − Pfarrer Jakob Heer als Volksaufklärer

Das erste eigens für den Schulunterricht in Engi erbaute Haus hat nach 1876, als das heutige Schulhaus fertiggestellt war, manche Veränderung erfahren. Die Aktienbäckerei, später der ‚Consum‘, viel später ein Handwerks- und Transportbetrieb waren dort untergebracht. Gegenwärtig beherbergt es unter anderem einen ‚Kunstraum‘.
Nach der Einweihung des neuen Schulhauses im Jahre 1832 erschien in der Glarner Zeitung zu diesem Ereignis eine dreiteilige Artikelserie, die in Engi – Ein historischer Spaziergang abgedruckt wurde.[1] Der Anlass war von einem Festakt begleitet. Der Matter Pfarrer Jakob Heer (1784−1864), der für den Bau des Gebäudes eine stattliche Spendensumme gesammelt hatte, und Zeugherr Dietrich Schindler (1795−1882), der Vertreter der Glarner Obrigkeit, hielten Festreden. Der Gemeindepfarrer pries einmal mehr die zu seiner Zeit erreichten pädagogischen Fortschritte. Hingegen beklagte der zweite Redner den von den Engeler Bürgern auch selbstverschuldeten Bildungsnotstand. Er rief die Eltern auf, vermehrt den Nutzen der Schule anzuerkennen und die Kinder in den Unterricht zu schicken. Dieser war damals noch freiwillig und hatte in der Bevölkerung nicht den von den Volksaufklärern gewünschten Rückhalt. Deshalb war das neue Schulgebäude sowohl Monument des Fortschritts als zugleich Zeichen der Ermahnung, dem Elementarunterricht auf Gemeindeebene zum Erfolg zu verhelfen. Der Kanton Glarus verpflichtete sich nämlich erst 1836, verfassungspolitische Verantwortung für das Bildungswesen zu übernehmen, und die pädagogische Aufklärung gewann im Glarnerland erst zwischen 1830 und 1850 massgeblich Terrain. Wie überall war sie gekennzeichnet vom optimistischen Glauben an die göttliche Vorsehung und an die Leistungskraft der menschlichen Vernunft. Hauptvertreter dieser Fortschrittspädagogik waren in der Schweiz Johann Heinrich Pestalozzi (1746−1827) und Emanuel von Fellenberg (1771−1844), deren Einfluss sich seit dem beginnenden 19. Jahrhundert auch im Glarnerland bemerkbar machte. Heers Rede vom 29. März 1835 vor der Schulgemeindeversammlung in Engi erlangte durch die Veröffentlichung in den Allgemeinen schweizerischen Schulblättern, die der Matter Pfarrer herausgab, nationale Verbreitung.[2] Im selben Jahr weilte er für sieben Wochen als Leiter eines Bildungskurses in Fellenbergs Erziehungsinstitut in Hofwyl. Nach seiner Rückkehr stellte er fest, dass sein Einsatz für die Schule in Engi Früchte getragen habe.
Der Glarner Historiker, Pfarrer und spätere Ständerat Gottfried Heer (1843−1921) zitierte bereits 1882 ausführlich aus der schulpolitischen Ansprache seines Grossonkels.[3] Diese blieb dann 120 Jahre lang vergessen, bis sie in einer Zürcher Habilitationsschrift aus dem Jahre 2002 am Rand wieder erwähnt wurde.[4] Heers Rede wurde aber auch als Einzelpublikation in Aarau gedruckt.[5] Sie ist ein leidenschaftliches Bekenntnis zur patriotischen Volksaufklärung. Heer widerlegte der Reihe nach Argumente einer damals offenbar verbreiteten dörflichen Bildungsfeindschaft. Seine Rede war von autoritärem Gestus geprägt: Er las in ihr den aufklärungsresistenten Engeler Bürgern mit Zuckerbrot und Peitsche die Leviten und übte mit seiner Bildungsbegeisterung moralischen Druck aus: „Höret heute auf die Stimme der Vernunft und der Pflicht; höret auf die Stimme eueres redlichen Seelsorgers.“[6] Rückblickend gesehen hatte das von ihm noch an der Einweihungsfeier von 1832 vertretene Fortschrittspathos einen kräftigen Dämpfer bekommen. Es geriet in einen Begründungsnotstand.
Welches waren nun der Anlass und die Argumente der Schulgegner, die Jakob Heer im Nachbardorf so entschlossen bekämpfte? Freilich treten sie nur in der elitären Sicht des Pfarrers, des Befürworters einer Aufklärungsnotwendigkeit von oben, in Erscheinung, nicht aus der Perspektive schulfeindlicher Adressaten, an die sich der Redner wandte. In Heers Ansprache spiegelt sich der aus vielen Orten der Schweiz bekannte Widerstand der Landbevölkerung, vor allem dörflicher Unterschichten, gegen die ihnen verhassten Neuerungen.
Anlass der Ermahnungen des Matter Pfarrers war ein kommunaler Schulkonflikt, dessen Verlauf wir im Einzelnen nicht kennen. Offenbar ging er auf den Unterricht des Engeler Oberlehrers Samuel Blumer (1804−1849) zurück. Im fortgeschrittenen Alter besuchte dieser während eines Jahres das kantonale Lehrerseminar in Küsnacht, das Ignaz Thomas Scherr (1801−1870) leitete, und absolvierte dort die angestrebte professionelle Ausbildung. Blumers pädagogische Methoden wurden von einer Zahl Gemeindebürger abgelehnt, was zu dessen Kündigung führte. Jakob Heer nahm den umstrittenen Lehrer in Schutz, der sich durch das Zureden des Pfarrers entschloss, die Stelle in Engi zu behalten. Der Matter Pfarrer lobte Blumer als beruflich hervorragend qualifizierte und ideell gesinnte Persönlichkeit, mahnte die Bürger, den Pädagogen Vertrauen zu schenken, und setzte sich in seiner Rede sogar für eine Lohnerhöhung der beiden Engeler Lehrer ein. In einem rhetorischen Kraftakt zerpflückte er die Argumente der Gegner und setzte die Kontrahenten ins Unrecht: Die Schule vergrössere die Armut nicht, im Gegenteil sie verringere die Bedürftigkeit der Dorfbewohner. Wenn Heer im übertragenen Sinn von Kapital sprach, nahm er, ohne theoretischen Tiefgang, den heutigen Begriff des geistigen, respektive sozialen Kapitals vorweg. Man wollte, wie er festhielt, dem Lehrer zumuten „vorzugsweise nur das Lesen und Schreiben und Auswendiglernen des Katechismus in der Schule zu üben, Sprachlehre und Rechnen als bloße, zum Theil überflüssige Nebensachen zu behandeln, mehr die ältern, als die neuern, geschenkweise in die Schule gekommenen Lehrbücher zu gebrauchen“.[7] Die Schüler sollten hingegen selbstständig denken, einen korrekten Brief oder einen fehlerfreien Aufsatz verfassen lernen. Mädchen und Mägde sollten auf ihre Rolle im Haushalt vorbereitet, das hiess, auch im Rechnen unterrichtet werden. Andererseits wertete Heer den Schulgesang auf, denn dieser spreche die Gefühle an und trage zur Verbesserung der Sitten sowie zum moralisch unbedenklichen geselligen Zusammenleben bei. In Engi hatte anscheinend die Einführung des Zürcherischen Schulgesangbuchs (Zürich 1833) von Hans Georg Nägeli (1773−1836) Anstoss erregt, weil es religiöse Gewohnheiten verletzte.
Um bei den Zuhörern anzukommen – es war ein Männerpublikum − zog der Matter Pfarrer alle rhetorischen Register. Einerseits unterliess er es nicht, die Angst der Bürger vor dem göttlichen Gericht zu schüren, zum anderen den Gemeindegenossen mit dem Lob ihrer Verdienste um die Förderung der Schulbildung zu schmeicheln. ‚Aufklärung‘ bedeutete für ihn, das, was er und Gleichgesinnte für richtig hielten, als vernünftig zu propagieren. Wer konnte der Vernunft seine Zustimmung verweigern? Heute noch kommt bisweilen unter den Titeln ,Orientierungs-` oder ‚Aufklärungsversammlung‘ die Hoffnung politischer Behörden zum Ausdruck, durch den Beizug von (oft nicht unumstrittenen) Experten das Publikum überzeugen zu können.
[1] Engi – Ein historischer Spaziergang. Glarus 1996, S. 143−148.
[2] Jakob Heer: Rede an die den 29. März 1835 versammelte Schul-Gemeinde in Engi. […] Versuch einer populären Volksbelehrung über mehrere der Verbesserung des Volksschulwesens entgegenstehende Volksvorurtheile. In: Allgemeine schweizerische Schulblätter 1, 1835, S. 3−40.
[3] Gottfried Heer: Geschichte des glarnerischen Volksschulwesens. Glarus 1882, S. 159−164.
[4] Alfred Messerli: Lesen und Schreiben 1700 bis 1900. Untersuchung zur Durchsetzung der Literalität in der Schweiz. Tübingen 2002, S. 729 (Register: Heer, Jakob).
[5] J[akob]. Heer: Rede an die den 29. März 1835 versammelte Schulgemeinde in Engi. Gehalten von J. Heer, Pfarrer in Matt. Versuch einer populären Volksbelehrung über mehrere der Verbesserung des Schulwesens entgegenstehende Volksvorurtheile. Aus den allgemeinen schweizerischen Schulblättern auf Verlangen mehrerer Schulmänner und Schulfreunde besonders abgedruckt. Aarau, 1835. Bei Heinrich Remigius Sauerländer.
[6] Heer (Anm. 2), S. 37.
[7] Heer (Anm. 2), S. 6.